Die vierte Säule des Gesundheitswesens

Schweriner Selbsthilfekontaktstelle feiert 20. Geburtstag

Schwerin – Selbsthilfe war in der DDR nicht erwünscht. Der sozialistische Staat allein wollte die Verantwortung für seine Bürger tragen. Unabhängig organisierte Unterstützung Gleichgesinnter hätte seine Allmacht rasch untergraben können. Doch unmittelbar nach dem Fall der Mauer gründeten sich die ersten Gruppen, in denen sich Menschen mit den gleichen gesundheitlichen Problemen, mit den gleichen familiären Sorgen gegenseitig unterstützten. Das waren Menschen mit MS, Kehlkopflose, Allergiker, Krebskranke, allerziehende Frauen, Adipöse, Angehörige pflegebedürftiger Bürger, Mütter im Babyjahr…

Anfang 1990 trug Dr. Ursula von Appen, zuvor Leiterin des städtischen Kabinetts für Gesundheitserziehung, die Idee einer Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen im Schweriner Amt für Gesundheit und Soziales ein und fand beim Dezernenten Dr. Wolfgang Jähme sofort ein offenes Ohr. Der heute niedergelassene Facharzt für Psychotherapeutische Medizin ist überzeugt von der Notwendigkeit der Selbsthilfe, vor allem bei chronischen Erkrankungen: „Selbsthilfe kann medizinische Therapien nicht ersetzen, aber hier treffen sich Menschen mit einem gemeinsamen Problem oder Anliegen, die durch einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch vielfach Experten in eigener Sache geworden. Die KISS bietet dabei die Unterstützung, sich selbst helfen zu können. Im Idealfall arbeiten die Selbsthilfe und professionelle Hilfe, zum Beispiel durch qualifizierte Ärzte, gut nebeneinander und ergänzen sich.“

So war er dann auch am 29. August 1991 eines der 28 Gründungsmitglieder des Vereins Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen in Schwerin, die heute als KISS der Anlaufpunkt für Menschen ist, die ihre Probleme mit der Gesundheit oder ihrem Lebensumfeld mit gemeinsam Gleichbetroffenen  meistern wollen. Dr. Ursula von Appen war die erste Geschäftsführerin und langjährige  Vorsitzende. Das Arbeitsfeld der KISS erweiterte sich rasant. Nutzten anfangs Betroffene in 30 Gruppen die Hilfe zur Selbsthilfe, so vermittelt die KISS heute Interessenten in 137 Gruppen. Überwogen in den ersten Jahren Frauen in Gruppen chronisch Kranker, so sind die Themen heute weitaus breiter gefächert.  im Babyjahr, die Möglichkeit des Austausches und der gegenseitigen Unterstützung. Von A wie Adipositas bis Z wie Zöliakie reichen die Erkrankungen, dazu kommen Gruppen von Angehörigen, Opfern  sexueller Gewalt sowie Menschen, die Vorsorge oder Sport betreiben.  Vor allem in den wachsenden Bereichen Sucht und psychische Erkrankungen suchen immer mehr jüngere Menschen die KISS auf, die im Jahr 2005 ans Nordufer des Pfaffenteichs zog.

Seit elf Jahren ist Silke Gajek, einst Mitbegründerin des Schweriner Frauenhauses,  Geschäftsführerin des Vereins. Die KISS ist heute mehr denn je Dienstleister für die Selbsthilfegruppen. Sie hilft bei der Führung von Gruppenkonten, engagiert sich schon bei der Gründung einer neuen Selbsthilfegruppe. Dafür stehen neun gut ausgebildete ehrenamtliche Ingangsetzer bereit. Um Betroffene auch in den Weiten Mecklenburgs zu erreichen, bietet nicht nur die Homepage unter www.kiss-sn.de alle wichtigen Informationen über die Arbeit und die Möglichkeiten der KISS, seit fünf Jahren gibt es auch eine vielgenutzte Onlineberatung. Die Initialzündung kam aus Schwerin; inzwischen betreibt die Landesarbeitsgemeinschaft dieses Podium, in dem Experten für Betroffene, aber auch Betroffene für Betroffene da sind. Und sie zeigt den Mitgliedern, welche Rechte sie einfordern können. Dazu betont  Silke Gajek: „Die Hilfe zur Selbsthilfe ist auch eine Anforderung an die Gesellschaft. Dies den Politikern verständlich zu machen, ist ein Anliegen unserer Kontaktstelle.“ Eine Aufgabe, die sie in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich meisterte.

Ein gutes Fundament für die künftige Arbeit sieht Silke Gajek in zwei ganz aktuellen Vereinbarungen  mit den Helios-Kliniken und dem Tumorzentrum Schwerin. Sie schreiben die Unterstützung der Selbsthilfe durch die medizinischen Einrichtungen fest. „Endlich weist auch der Klinikbereich der Selbsthilfe den Stellenwert zu, der ihr als vierte Säule des Gesundheitswesens zusteht“, freut sich die KISS-Geschäftsführerin.

Weitere Projekte werden im Bereich der pflegenden Angehörigen auch im Schweriner Umland umgesetzt, wo sich in den vergangenen Jahren ein wachsender Bedarf abzeichnete. Gajek: „ Bislang gibt es hier nur angeleitete Gruppen, die Selbsthilfe müssten wir aufbauen.“

Am 30. August feiert die KISS ihren 20. Geburtstag mit einem Empfang im Altstädtischen Rathaus von Schwerin. Die Veranstaltung beginnt um 16 Uhr und bietet Fachreferate ebenso wie Erfahrungsberichte Betroffener, einen Film über den ersten Schweriner Selbsthilfetag 1994, Musik, Theater und viele Gelegenheiten zum Austausch.

Gudrun Schulze

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