Dr.Harald Terpe (Bündnis 90/Die Grünen) über die „Hartz IV“-Diskussion in Deutschland

Der Bundestagsabgeordnete aus MV äußert sich über die Folgen des „Hartz IV“-Urteils und die aktuelle Debatte darüber.

Zurzeit wird heftig und emotional über die Folgen des Hartz IV-Urteils des Bundesverfassungsgerichtes debattiert  – nicht immer sachlich, nicht immer konstruktiv und schon gar nicht lösungsorientiert.

Die einzelnen Schicksale, die Lebenswege der jeweiligen Bezieher von ALG II geraten in den Hintergrund, ganz gleich, ob es sich um eine allein erziehende Mutter handelt, um einen jungen Mann, der vielleicht unverschuldet einen schweren Unfall mit erheblichen bleibenden Beeinträchtigungen hatte, um einen ehemaligen DDR-Widerständler, dessen Gesundheit durch eine politische Haftzeit vor der Wende zerstört wurde, oder um einen zwar arbeitswilligen Arbeitnehmer Ende 50, der jedoch aufgrund seines „Alters“ keine Arbeit mehr findet.

Eine arbeitsunwillige Minderheit dient als Vorwand, um den Sozialstaat Deutschland „in Tönen“ zu kritisieren, die scheinheilig sind.

Wo bleiben diese Kritiker, wenn es darum geht, Finanz-Jongleuren das Handwerk zu legen, die die Welt an den finanziellen wie wirtschaftlichen Abgrund brachten ?! Wo bleiben diese Kritiker, wenn es darum geht, Steuerhinterzieher, die das staatliche Gemeinwesens extrem schädigten, „dingfest“ zu machen ?! Und: Wo bleiben diese Kritiker, wenn es darum geht, die Rolle der Parteien in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft neu zu definieren ?!

Die Diskussion ist eröffnet und am Ende wird gelten: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“ – Letztendlich werden sich gar die jetzigen Sozialstaats-Kritiker ihrerseits einer fundamentalen Kritik stellen müssen.

Insofern ist die Diskussion, die zum Teil auf erbärmlichsten Niveau nur in Richtung „Hartz IV-Empfänger“ geführt wird, deutlich zu begrüßen. Nur: Die Diskussion sollte weitergeführt, ja ausgeweitet werden. Es gilt, die Defizite, die im Wirtschafts-, Subventions- und Finanzbereich in Deutschland vorhanden sind, ganz offen anzugehen.

Doch wie beurteilt Dr. Harald Terpe (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied des Deutschen Bundestages, u.a. Obmann im Ausschuss für Gesundheit, Sprecher für Drogen- und Suchtpolitik der grünen Bundestagsfraktion und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Diskussion um „Hartz IV“ ?!

Schwerin-News fragte nach …

„Das Problem sind die exorbitant geringen Löhne in manchen Bereichen …“

Frage: Herr Dr.Terpe, das mit Spannung erwartete Urteil zu den Hartz IV-Regelsätzen wurde am 9.Februar verkündet. Demnach sind die Hartz-IV-Regelsätze in der jetzigen formalen Form verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag entschieden. So sei nach Ansicht der Richter die Berechnung nicht transparent genug. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, bis zum 31. Dezember eine Neuregelung zu schaffen.

Welche Konsequenzen ergeben sich nach dem Urteil ? Wie hoch müßte aus Ihrer Sicht die Höhe der Regelsätze sein ?

Dr.Harald Terpe, Bundestagsabgeordneter aus M-V.Dr. Harald Terpe: Vorneweg. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht über die Höhe der Regelsätze befunden oder gesagt, diese wären zu hoch oder zu niedrig. Es hat vielmehr die Ermittlung dieser Regelsätze als verfassungswidrig gerügt. Das macht die Sache nicht besser.

Es ist aber ein Unterschied. Das entscheidende ist vor allem, dass das Prinzip ‚Pi mal Daumen‘ ein Ende hat. Es muss nun endlich nachvollziehbar ermittelt werden, welche Bedarfe Empfängerinnen und Empfänger wirklich haben. Der Kinderregelsatz muss eigenständig errechnet werden. Bislang sind Bildungsausgaben nicht in die Ermittlung einbezogen worden.

Diese müssen jetzt endlich einbezogen werden. Wir GRÜNEN hatten in der Vergangenheit bezogen auf den Regelsatz immer zwei Kernforderungen: Er muss angehoben werden auf 420 Euro und er muss durch eine unabhängige Kommission bestehend aus Gewerkschaften, Sozialverbänden, Wissenschaftlern und Arbeitgebern ermittelt werden. Vor allem an der letzten Forderung werden wir das messen, was die Bundesregierung in Umsetzung des Urteils tun wird.

Frage:
Hartz IV war in der bisherigen Form ohnehin eine Fehlkonstruktion, ein bürokratischer Beschäftigungsapparat. Da wurden arbeitswillige Menschen mit erheblichen gesundheitsbedingten Handicaps, allein erziehende Mütter, junge wie ältere fleißige Arbeitnehmer, die unverschuldet die Arbeit verloren haben, in einen Topf mit den wenigen wirklich Arbeitsunwilligen geworfen, wobei Letztgenannte medial als typische Hartz IV-Empfänger herhalten. Wie beurteilen Sie die Hartz IV-Realität im Lande ?

Dr. Harald Terpe: So pauschal würde ich das nicht sagen. Die Arbeitsmarktreformen waren keine Fehlkonstruktion. Sie waren ein komplexes Gesetzeswerk, dessen komplette Auswirkungen niemand wirklich überschauen konnte.

Es ist klar, dass es da auch zu Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen kommen kann bzw. gekommen ist. Auch wir als Grüne müssen uns aber eingestehen, dass die Politik ein wichtiges Versprechen im Zusammenhang mit Hartz IV nicht erfüllt hat.

Und das betrifft gar nicht die Höhe des Regelsatzes. Wir haben immer gesagt, dass Fördern und Fordern zusammengehören. Das Fördern ist allerdings bislang zu kurz gekommen. Stattdessen haben wir ein ausgefeiltes und wie ich finde übertriebenes System von Sanktionen.

Aber die Qualität und der Umfang der Angebote für ALG II-Bezieherinnen und -Bezieher sind nicht zufriedenstellend. Schlimmer noch: Die Angebote werden unter dem Druck der Kassenlage der Bundesagentur für Arbeit immer weiter zusammengekürzt. Diesen Aspekt, wie können wir die Menschen fördern, der ist viel wichtiger als die Frage, ob und wie man zwischen arbeitswilligen und faulen ALG II-Beziehern differenziert. Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen mit Anreizen und einer guten Förderung aus der eventuell vorhandenen Lethargie geholt werden können.

Der sanfte Tourismus in M-V - ein wichtiger Wirtschaftszweig nach Dr.Terpe.Frage:
Ein Manko bei „Hartz IV“ war immer: Das Elend wurde verwaltet, aber nie gelöst. Monatlich werden geschönte Arbeitslosenstatistiken präsentiert, die mit der Realität nichts gemein haben. „Unternehmer“ und „Arbeitnehmer“ sind inzwischen auch solche, die man früher eher dem „Prekariat“ zugeordnet hätte, wenn man deren reale Einkommen zum Maßstab nimmt. Wie beurteilen Sie die Situation auf dem Arbeitsmarkt – vor dem Hintergrund von „Hartz IV“ ?

Dr.Harald Terpe: Das ist in der Tat ein Problem. Die unsteten Arbeitsverläufe aber auch echte Hungerlöhne in manchen Branchen haben zu sehr geringen Einkommen geführt. Die Behauptung allerdings, wie sie von Westerwelle und dem Blatt mit den dicken Schlagzeilen erhoben wird, dass ALG II-Empfänger besser dastehen als Menschen, die morgens zur Arbeit gehen, ist ziemlich heuchlerisch. Und sie stimmt auch nicht.
MV - schöne Landschaft, schöne Städte. MV ist eben eine Hochburg des Tourismus.
Es gibt den Kinderzuschlag in Höhe von bis zu 140 Euro. Den können alle beantragen, deren Erwerbseinkommen unter einer bestimmten Schwelle liegt. Es gibt darüber hinaus noch das Wohngeld. Und selbst wenn das Erwerbseinkommen unter dem ALG II-Regelsatz liegen sollte, können diese Menschen „aufstocken“.

Das Problem sind die exorbitant geringen Löhne in manchen Bereichen. Deswegen fordern wir schon lange einen Mindestlohn. Die Heuchelei von Westerwelle, BILD & CWirtschaftszweig mit Zukunft in MV ? Die maritime Wirtschaft.o. besteht darin, dass sie diesen Mindestlohn bislang immer abgelehnt haben.

Sie benutzen jetzt die sehr geringen Löhne, um eine Absenkung des ALG II-Regelsatzes fordern zu können. Die sollen mal in das Urteil des Bundesverfassungsgericht schauen. Jeder Mensch hat das Recht mindestens auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das ihm ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht.

Frage: Dennoch … Eine destruktive Minderheit lebt wirklich auf Kosten der Arbeitenden und Arbeitswilligen. Echte Konsequenzen sind selten. Was muß sich hier ändern ?

Dr. Harald Terpe: Diese Menschen gibt es bestimmt. Im Jahr 2009 machten sie aber nur 1,9 Prozent aller Fälle aus. 98,1 Prozent der ALG II-Bezieher haben einen rechtmäßigen Anspruch auf Hilfe. Es ist zutiefst unfair, die wenigen Missbrauchsfälle zu instrumentalisieren, um die überwältigende Mehrheit hilfebedürftiger Bürger zu diffamieren.

Das Bundesverfassungsgericht hat noch einmal betont, dass jedem das sozio-kulturelle Existenzminimum gewährt werden muss. Das ist der Kern des Sozialstaatgebots. Das bedeutet, dass man die Existenzsicherung nicht davon abhängig machen darf, ob sich jemand in einen sinnlosen Ein-Euro-Job fügt oder nicht. Allein die Frage, ob jemand hilfebedürftig ist oder nicht, ist dafür entscheidend.

Letzte Frage: Die Arbeitsmarkt-Situation in M-V bleibt angespannt. Welche Perspektiven sehen Sie – arbeitsmarktpolitisch – für Mecklenburg-Vorpommern ?

Dr. Harald Terpe: Da hat keiner eine Patentlösung. Wir müssen uns vor allem von der Illusion befreien, dass da ein großer Investor kommt und uns hier gigantische Fabriken auf die Wiese stellt.

Ich habe eher einen langfristigen Ansatz: Wir müssen mehr Wertschöpfung vor Ort schaffen. Nehmen wir ein Beispiel. In den meisten ländlichen Regionen wird Energie teuer eingeführt. Da frage ich mich: Warum wird die nicht vor Ort produziert? Da könnten die einen Holzpellets herstellen, die anderen könnten darauf aufbauend ein kleines Biogas-Kraftwerk betreiben.

Es gibt in Österreich ein schönes Beispiel. In Güssing, einer Grenzregion mit vergleichbaren Problemen wie unser Land, hat man ab 1990 eine energieautarke Region geschaffen. Die benötigte Energie wird jetzt vollständig vor Ort produziert. Mit der Erzeugung regenerativer Energien wurde ein Wachstumskern geschaffen. Sie finden dort jetzt holzverarbeitende Industrie, Solarunternehmen, Tourismus usw. Die Arbeitslosigkeit konnte ebenso verringert werden wie die Abwanderung.

Das kann und sollte man nicht 1:1 kopieren. Aber es zeigt, wohin die Richtung gehen muss. Hinzu kommt: Wir haben gute Hochschulen im Land. Auch dieses Potential müssen wir besser nutzen. Auch der sanfte Tourismus und der demographische Wandel bieten Chancen. Im übrigen müssen wir alles dafür tun, damit uns die maritime Wirtschaft nicht wegbricht und wieder zukunftsfähig wird.

Das Entscheidende aber ist: Wir brauchen eine Strategie. Die Ansätze müssen ineinander greifen. Ein Kraftwerk Lubmin passt nicht zu dem Ansatz, die Wertschöpfung in ländlichen Regionen oder den Tourismus zu stärken. Das gleiche gilt für gigantische Schweinemastanlagen, wie sie Herr Backhaus und andere fördern.

Oder: In Rostock haben sich einige große Unternehmen aus der Windkraftbranche angesiedelt. Gut wäre es doch, wenn jetzt das Thema erneuerbare Energien an unseren Hochschulen eine größere Rolle spielen würde. Das passiert aber nicht. Wir müssen strategischer denken und die vorhandenen Potenziale ausbauen.

Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich nehme für mich nicht Anspruch, die einzige Wahrheit gepachtet zu haben. Wenn wir erfolgreich sein wollen, brauchen wir viele Ideen, die zusammen ein Leitbild, eine praktikable Vision ergeben.

Die Fragen stellte: Marko Michels.

Foto 1: H. Terpe

Fotos 2-5: Michels

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