Erinnern – Betrauern – Wachrütteln

Tag des Gedenkens für psychisch kranke und behinderte Opfer anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus in Mecklenburg Vorpommern

Am 27.01.2010 in der Landeshauptstadt Schwerin

Im März 2009 trat die UN Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Sie ist geltendes deutsches Recht und muss umgesetzt werden. Dabei muss Deutschland das Leitbild der Konvention berücksichtigen: die Inklusion, also die vollumfängliche Einbeziehung behinderter Menschen von Anfang an.
Mit der Ratifizierung der UN Konvention hat Deutschland rechtlich und politisch ein neues Kapitel im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen aufgeschlagen. Die Hoffnungen, die sich damit verbinden, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland nach wie vor ein schweres historisches Erbe trägt, an das es zu ERINNERN gilt, die Opfer zur BETRAUERN und die Gesellschaft damit WACHZURÜTTELN gegen rechtsextremistische und menschenverachtende Tendenzen in Politik, aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft wie der Lehre und Forschung.
Der Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten hatte viele Opfer. Eine Opfergruppe jedoch ist lange Zeit verschwiegen oder tabuisiert worden: Menschen mit psychischen oder anderen Erkrankungen, geistigen und körperlichen Behinderungen, die im Rahmen der Erbgesundheitsgesetze und der sog. T 4-Aktionen umgebracht oder dauerhaft geschädigt wurden.
Mit der Übernahme der Macht am 30. Januar 1933 wurden die rassebiologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten zur staatlichen Politik in Deutschland. Bereits ein halbes Jahr später verabschiedete die Regierung das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, auf dessen Grundlage deutsche Erbgesundheitsgerichte bis 1945 über 400.000 Menschen sterilisieren ließen.
Die Radikalisierung der NS-Rassenpolitik gipfelte in den „Euthanasie“- Morden von kranken und behinderten Menschen. Per 1.9.1939 ermächtigte Adolf Hitler ausgewählte Ärzte, Pflegerinnen, Pfleger und Hebammen zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. 1940 /41 wurden reichsweit über 70.000 Patienten aus  Nervenheilanstalten, auch  aus dem heutigen Mecklenburg-Vorpommern, in sechs Tötungsanstalten ermordet. Zwar wurde diese geheime „Aktion T 4“ im August 1941 eingestellt, doch das Töten ging dezentral in den Anstalten weiter.
Heutigen Forschungen zufolge wurden mehr als 300 000 kranke und behinderte Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus bis 1945 ermordet: durch gezielte „Ausmerze“, durch Hungerkost, in den sog. „Kinderfachabteilungen“ u.a.. Die Dunkelziffer ist weit höher.
Das Besondere daran: die Tötungen und Verbrechen an den Menschen wurden durch das Gesundheits- und Justizsystem selbst organisiert und umgesetzt: Ärzte, PflegerInnen und Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden und der Justiz – wurden zu Tätern im Namen einer Menschen verachtenden Gesellschaft. Ihren Auftrag, Leben zu schützen und zu erhalten verkehrten sie ins Gegenteil: die sog. „soziale Frage“ sollte mit allen Mitteln endgültig gelöst werden und die Gesellschaft von den sogen. „unnützen Essern“ und „Ballastexistenzen“ befreit werden. Letztendlich waren die Vergasungsanlagen in den Tötungsanstalten die Erprobungsfelder für die dann einsetzende Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung und anderer Bevölkerungsgruppen und ethnischer Minderheiten.
Noch heute fehlt es an Bewusstsein für die Geschehnisse und die Anerkennung der Opfer dauerte länger als bei allen anderen Opfergruppen. Auch in der Ausbildung von Medizinern und anderen Gesundheitsberufen spielt bspw. dieses Kapitel wenig bis gar keine Rolle.
Nach der Befreiung von  der NS-Herrschaft war ein Neuanfang ohne die Ahndung der nationalsozialistischen Medizinverbrechen unvorstellbar. Doch die Aufarbeitung blieb in den Anfängen stecken und verlief häufig im Sande und viele Täter konnten bald wieder unbehelligt weiter praktizieren. Die BRD und die DDR taten sich schwer mit der Erinnerung an die Opfer, die Hintergründe und die Zusammenhänge der Medizinverbrechen in der NS-Zeit. Entschädigungen blieben den Überlebenden versagt und für ihre Rehabilitierung mussten sie lange kämpfen.
Kaum eine ethische Debatte im Gesundheitswesen wird ohne den Verweis auf die Vergangenheit geführt. Vor dem Hintergrund der UN Behindertenkonvention ist es bedeutsam, die zukunftsorientierten Perspektiven für Gesundheit, Krankheit und Behinderung im Licht der Vergangenheit zu verstehen.
Das Wissen um die Geschehnisse weiterzutragen und aus der Geschichte zu lernen hat sich der Landesverband Sozialpsychiatrie MV in seiner Mitgliederversammlung 2007 verpflichtet.
Eine Serie von Veranstaltungen unter dem Motto ERINNERN – BETRAUERN – WACHRÜTTELN  wurde am 27.01.2008 im Rathaus Stralsund durch den Landesverband Sozialpsychiatrie MV begonnen und ein Jahr später in Rostock weitergeführt. 2010 wird der Gedenktag  nun in der Landeshauptstadt Schwerin fortgesetzt. Der Landesverband Psychiatrie Erfahrene MV sowie der Landesverband der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker MV sind wichtige Partner in diesem Projekt.
Weitere Verbündete haben sich nun in Vorbereitung der Schweriner Gedenkveranstaltung zusammengefunden: eine breite Beteiligung signalisiert, dass wir heute gegen jede Form der Geschichtsverdrängung und gegen jede sozialdarwinistisch verbrämte Rhetorik – auch in der Politik – zusammenstehen müssen.

Es gibt in Mecklenburg-Vorpommern, z.B. in Alt Rehse, Schwerin, Stralsund, Rostock, Wismar, verschiedene Einrichtungen, Initiativen, Vereine, Verbände und Persönlichkeiten, die sich in den letzten Jahren, auch über die authentischen Orte der Verbrechen hinaus, zunehmend in Lehre und Praxis gesellschaftspolitisch und künstlerisch mit der Aufarbeitung dieser Geschichte engagiert beschäftigen. Neben einem Erinnerungsstein in Alt Rehse sind in den letzten Jahren Memoriale in Stralsund, Schwerin und Rostock zur Mahnung und zum Gedenken geschaffen worden.

Teil I:    Am 27.01.2010 wird nun vormittags ab 10.00 Uhr am Mahnmal auf dem Klinikgelände der HELIOS Klinik Schwerin durch eine Kranzniederlegung denjenigen Patientinnen und Patienten gedacht, die durch die damalige Schweriner Klinik während  der NS-Zeit der Vernichtung zugeführt wurden. (Ab 9.30 Uhr Kapelle Religiöses Gedenken)

Teil II: Am Nachmittag ab 12.30 Uhr wird der Gedenktag im Schweriner Gymnasium Fridericianum mit einem informativem Teil fortgeführt. Begleitet von der Präsentation  thematischer Ausstellungen, werden Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Verwaltung, Verbänden, Kultur und der HELIOS Kliniken Schwerin die Geschehnisse beleuchten und Rückschlüsse auf die aktuelle Diskussion zum Umgang mit psychisch kranken und behinderten Menschen ziehen (Programm unten).

ERINNERN: 27. Januar 1945: Soldaten der Roten Armee befreien die zurückgelassenen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und beenden deren Martyrium. Der 27. Januar erinnert heute an die über sechs Millionen Juden und die vielen anderen Opfer des nationalsozialistischen Rassen- und Größenwahns. 1996 erklärte Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum nationalen Gedenktag in Deutschland „für die Opfer des Nationalsozialismus”. Er solle als „nachdenkliche Stunde inmitten der Alltagsarbeit” begangen werden. Die UNO erklärte 2005 den 27. Januar zum Holocaust-Gedenktag und zugleich zum Gedenktag für alle Genozide (Völkermorde) in der Welt. Wir gedenken heute auch einer lange vergessenen Opfergruppe: Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistigen und anderen Behinderungen. Hitler´s sog. „Euthanasie“-Erlass leitete 1939 die T4- Aktion und damit die systematische Ermordung von etwa 70.000 Menschen in Tötungsanstalten ein. Über 300.000 weitere kranke und behinderte Menschen wurden bis 1945 in Psychiatrischen Klinken und sog. Fachabteilungen umgebracht, mehr als 400.000 Kinder und Erwachsene zwangssterilisiert. Eine Anerkennung als NS-Opfer wurde ihnen lange verwehrt, die Scham und das Stigma aber leben weiter.

BETRAUERN: Im Jahr 2008 richteten wir, der Landesverband Sozialpsychiatrie, der Landesverband der Psychiatrie- Erfahrenen und der Landesverband der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker, in Stralsund die erste Gedenkveranstaltung für die Menschen aus, die aufgrund einer geistigen Behinderung oder psychischen Krankheit zu Opfern des Nationalsozialismus wurden, um ihrer selbst und ihrer Angehörigen zu gedenken und um sie zu trauern. Die Veranstaltung wechselt jährlich zu einem anderen, aus historischer Sicht für die Verbrechen des NS-Regimes bedeutsamen Ort in M-V. Nach Stralsund und Rostock findet die dritte Veranstaltung in Schwerin statt.

WACHRÜTTELN: Angesichts heutiger rechtsextremer Bewegungen in Politik und Gesellschaft wollen wir mit unserer Veranstaltung dafür sensibilisieren, dass sich solche Ideologien in der Gesellschaft, aber auch in Lehre und Forschung nie wieder verfestigen und sich die Greueltaten aus unserer Vergangenheit nicht wiederholen können.

Im Namen der Veranstalter
SANDRA RIECK

Veranstalter sind:

Landesverband Sozialpsychiatrie MV e.V.
Landesverband der Psychiatrieerfahrenen MV e.V.
Landesverband der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker MV e.V.
sowie:
“Anker Sozialarbeit” gGmbH, Schwerin
Das “Boot” Wismar e.V., Wismar
Landesverband Lebenshilfe MV e.V.
Dreescher Werkstätten e.V.
HELIOS Kliniken Schwerin
Landeshauptstadt Schwerin u.a.

(Diese Veranstaltung wird u.a. unterstützt durch die Sparkasse Schwerin und die Aktion Mensch, sowie durch weitere private Spender.)

PROGRAMM

Der erste Teil der Veranstaltung findet im Freien am Mahnmal auf dem Gelände der HELIOS Kliniken Schwerin (am Sachsenberg) statt. Dort haben Sie auch Gelegenheit zur Andacht in der Kapelle.

Der zweite Teil der Veranstaltung wird in der Aula des Gymniasiums Fridericianum Schwerin in der Innenstadt fortgesetzt.
Die Redebeiträge werden von Schülern des Konservatoriums Schwerin mit Musikbeiträgen abgerundet.

TEIL I
09:30 – 09:50 UHR
Religiöses Gedenken “Klage vor Gott” in der Kapelle

10:00 – 11:00 UHR
Kranzniederlegung am Mahnmal der HELIOS Kliniken Schwerin (am Sachsenberg)
Gedenkworte: Stephan Nolte, Stadtpräsident der Landeshauptstadt Schwerin; Prof. Dr. med. Andreas Broocks, Ärztl. Direktor der Carl-Friedrich-Flemming-Klinik, HELIOS Kliniken Schwerin, Verein Freundeskreis Sachsenberg; Torsten Benz, Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern; Manuela Schwesig (angefragt), Ministerin für Gesundheit und Soziales in Mecklenburg- Vorpommern; Dr. Andreas von Maltzahn, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs

11:00 – 11:45 UHR
Mittagsimbiss und warme Getränke (im Parkrestaurant der HELIOS Kliniken)

11:45 – 12:30 UHR
Wechsel des Veranstaltungsortes

TEIL II
12:30 – 13:00 UHR
Grußwort der Veranstalter Sandra Rieck, Grußwort des Ministeriums für Soziales und Gesundheit Staatssekretär Nikolaus Voss; Grußwort der Oberbürgermeisterin der Landeshauptstadt Schwerin Angelika Gramkow

13:05 – 13:25 UHR
Euthanasieverbrechen auf dem Schweriner Sachsenberg: Was geschah wirklich? Prof. Dr. med. Andreas Broocks, Ärztl. Direktor Carl-Friedrich-Flemming-Klinik, HELIOS-Kliniken Schwerin

13:30 – 13:50 UHR
Lesung aus “Die Welt da drinnen” Helga Schubert, Schriftstellerin

Pause (20 min)
14:20 – 14:35 UHR
Redebeitrag: Aus Sicht der Psychiatrieerfahrenen Christian Kaiser, Vors. des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener M-V

14:40 – 15:00 UHR
Menschen mit geistiger Behinderung und NS-Vernichtung Frau Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust, stellv. Vorsitzende der Bundesvereinigung der Lebenshilfe

15:05 – 15:30 UHR
Die Sprachlosigkeit in der Psychiatrie/ Medizin überwinden! – Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Hamburg

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