„Ewigkeitssonntag“ 2011 in Schwerin: Besondere Momente des Erinnerns

Sie bleiben unvergessen … Tod von 20 Schweriner Schülern jährt sich zum 25. Mal

Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern,
in alle Formen mich kleiden,
in alle Sprachen des Lebens,
um dir einmal wieder zu begegnen.
(Friedrich Hölderlin)

Auch 2011 war wieder ein Jahr der verschiedenen Jubiläen, runder Geburtstage, diverser Jahrestage von Institutionen, Vereinen, Persönlichkeiten oder Ereignisse aus der Politik, des Sportes oder der Kultur. Ereignisse aus freudigem Anlass, aber auch aus weniger freudvollen Gründen. Traurige darunter. Sehr traurige. An diese erinnert man sich insbesondere gerade jetzt, gerade zum bevor stehenden „Ewigkeitssonntag“ am 20. November 2011. Es ist an der Zeit, dass auch die kleine, mitunter sogar liebevolle Landeshauptstadt Schwerin einmal inne hält …

Viele Ereignisse prägten die Geschichte, die Entwicklung Schwerins, aber keines erschütterte die Schwerinerinnen und Schweriner so sehr, wie ein Tag im Dezember 1986. Es war der 12. Dezember 1986, der unauslöschbar im Gedächtnis der Schwerinerinnen und Schweriner bleiben wird.

Es ist der Tag, an dem eine Tupolew Tu-134 A der sowjetischen Fluggesellschaft „Aeroflot“ von Minsk nach Berlin-Schönefeld fliegend, nahe Bohnsdorf abstürzt. An Bord waren 82 Passagiere, darunter 27 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 15 und 16 Jahren der Klasse 10a der Ernst-Schneller-Oberschule (heutige Nils-Holgersson-Grundschule). Nur 10 der 82 Passagiere überlebten das Unglück, dessen Umstände nie genau aufgeklärt wurden.

In der damaligen DDR, in der alles reglementiert wurde, staatliche „Fürsorge“ den Vorrang vor kirchlicher und echter Anteilnahme hatte und in der sogleich „Staatsorgane“ dafür sorgten, dass ja keine „antisowjetischen Äußerungen“ öffentlich wurden, wurde seinerzeit auch die Trauerfeier am 18. Dezember 1986 in der Halle am Fernsehturm (staatlich) durchorganisiert. Wer zur Trauerfeier erscheinen durfte, wer nicht teilnehmen sollte (Eltern der verletzten Kinder, die dann aber doch anwesend waren), was bei den Trauer-Reden gesagt werden sollte und wie es gesagt werden sollte.

Am unmittelbaren Tag des Unglücks blieben die Angehörigen jedoch allein. Unbeschreiblich traurige Szenen müssen sich am Abend des 12. Dezember 1986 auf dem Schweriner Hauptbahnhof abgespielt haben, als der Zug, der die Schülerinnen und Schüler von Berlin zurück nach Schwerin bringen sollte, eintraf – und keine Schülerin und kein Schüler ausstieg. Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine offiziellen Mitteilungen an die Eltern, kein politisch Verantwortlicher war anwesend, um Trost zu spenden …

Und, wie sich später herausstellte: Die Tupolew musste an jenem Tag wegen Nebels nach Prag abdrehen, dort landen. Die Klassenleiterin der 10a Sandra Kellermann und ihre Schülerinnen und Schüler wollten – angesichts der Probleme mit der Tupolew – mit dem Zug von Prag nach Berlin reisen, erhielten dazu aber keine Erlaubnis …

Am späten Abend des 12. Dezember 1986 begann dann der Aktionismus der Funktionsträger in Berlin und in Schwerin. Von da an blieb nichts „unberücksichtigt“ – nur eines berücksichtigten, praktizierten die damals politisch Verantwortlichen nicht, etwas, was der SED-Mitbegründer Otto Buchwitz einmal selbstkritisch zur eigenen praktizierten Politik eingestand: „Nach meiner Meinung haben wir eines nicht gelernt – Menschlichkeit!“

Eine offizielle Staatstrauer gab es nicht. Pastoren und Kirchenvertreter waren bei der offiziellen Trauerfeier unerwünscht. Musik war auf dem Schweriner Weihnachtsmarkt am 18. Dezember nur zwischen 13 und 16 Uhr nicht erlaubt … Es gab „staatliche Betreuung“ und „Entschädigungen“, was angeblich unter anderen Schwerinerinnen und Schwerinern zu Neid führte. Als ob ein paar DDR-Markt das Leben eines Menschen aufwiegen könnten.

Schnell war damals die Ursache gefunden – „menschliches Versagen“. Dass auch die Technik der Tupolew Tu-134 A als veraltert, als marode galt, fand mit keinem Wort Erwähnung. Der „große Bruder“ durfte ja nicht beleidigt werden. Schnell landete die „Problematik“ in der Akten-Ablage. Schwerin, die Schwerinerinnen und Schweriner, sollten zum realsozialistischen Alltag zurückkehren.

Am Ende des Schuljahres 1986/87 konnten die überlebenden sieben Schülerinnen und Schüler der Ernst-Schneller-Oberschul ihre Abschlussprüfungen ablegen. Bestrebungen der damaligen Pädagogen der Schule an das Unglück zu erinnern, wurden allerdings von „übergeordneter Stelle“ untersagt.

Das „Ereignis“ sollte der Vergessenheit preisgegeben werden, was nicht gelang, denn die Opfer leben ohnehin fort – in den Herzen ihrer Angehörigen … Die jungen Schülerinnen und Schüler der 10 a der Ernst-Schneller-Oberschule, die heute 40, 41 Jahre alt wären, ein neues, offenes Schwerin hätten erleben dürfen, bleiben unvergessen und das damalige staatliche „Handeln“ ebenso.

Wie wirkt dieses traurige Ereignis – 25 Jahre später – nach. Ist die Erinnerung an die Opfer wirklich noch wach, oder sind sie vergessen? Sollten Reden gehalten werden oder die große Ansprache gesucht werden? Vielleicht ja. Eher ja, als nein. Aber dann bitte authentisch, ehrlich und aufrichtig! Nur für einen Moment. Für einen Augenblick im Leben.
Traurige Ereignisse, wenn auch unter anderen Umständen und bei anderen Ursachen, wie jenes im Dezember 1986, wird es immer wieder geben. Allerdings darf sich der Umgang mit den Folgen, mit dem Unglücksfall an sich, so nie wiederholen.

Peter Jessel, Mitglied des Museumsbeirates Hagenow, meinte 1990 nachdenklich: „ … Achten wir (nun) die errungene Freiheit. Verhindern wir in der Zukunft Bürokratie, Geheimniskrämerei und Denunziantentum. Hüten wir uns vor Neid und Missgunst. Üben wir Toleranz und wiederholen wir nicht die Fehler der Vergangenheit …“

Dr. Marko Michels

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