Hartz IV – eine aktuelle Diskussion mit „offenem Ende“ ?!

Nachgefragt bei Dr.Marianne Linke von der Linkspartei in M-V

Dr. Marianne LinkeHartz IV-Empfänger „gleich“ Faulenzer ?! Was sind dann einige Politiker, die jahzehntelang von ihrer Partei, für ihre Partei leben, ihre Karriere von parteinahen Stiftungen maßgeblich finanzieren lassen ?! Tolle Typen ?! Oder (geist-)arme Typen ?! Tja, Klischeedenken in Deutschland hat Hochkonjunktur, besonders wenn es darum geht, arme Bevölkerungsgruppen gegen noch ärmere auszuspielen.

Dabei wächst die Armut in Deutschland ganz offiziell. In einer jetzt vorgelegten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wird darauf verwiesen, dass vierzehn Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet sind. Das ist offiziell ein Drittel mehr als noch im Jahr 1999. Fast 7 Millionen „Hartz IV“-Empfänger gibt es, von denen nur ein kleiner Teil keine Absichten hegt, eine Arbeit anzunehmen.

Dazu kommen noch die Empfänger von Arbeitslosengeld I, diejenigen, die in Qualifizierungsmaßnahmen, Kombi-Lohn-Stellen oder ABM „geparkt“ sind, also kein gesichertes Arbeitsverhältnis haben, sowie Arbeitnehmer, die geringe Löhne (selbst für anspruchsvolle Tätigkeiten) erhalten, Teilzeit-Jobs annehmen oder in den Vorruhestand gehen müssen, obwohl sie noch gern einen Vollzeit-Job hätten.

Realität in Deutschland, die von einigen Spitzen-Politikern, weiteren Spitzen-Beamten oder Spitzen-Journalisten – die gern den trotteligen Hartz IV-Empfänger, der alle Negativ-Eigenschaften erfüllt, vor die Kamera zerren – ausgeblendet wird.

Doch wie sieht eine Landtagsabgeordnete aus Mecklenburg-Vorpommern die Hartz IV-Realität im Land ?!

Nachgefragt bei Dr.Marianne Linke (Landtagsfraktion DIE LINKE), Sprecherin für Gesundheits-, Kinder- und Jugendpolitik, Forschungs- und Wissenschaftspolitik, Mitglied im Sozialausschuss und Mitglied im Verkehrsausschuss

„Ja, Hartz IV muß weg !“

Frage: Frau Dr.Linke, das mit Spannung erwartete Urteil zu den Hartz IV-Regelsätzen wurde am 9.Februar verkündet. Demnach sind die Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag entschieden. So sei nach Ansicht der Richter die Berechnung nicht transparent genug. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, bis zum 31. Dezember eine Neuregelung zu schaffen.
Fühlen Sie sich, als bisherige Kritikerin der Hartz IV-Regelsatz-Höhe, vollends bestätigt? Wie hoch müsste aus Ihrer Sicht die Höhe der Regelsätze sein?

Kinder sind keine Dr. Marianne Linke: Ja, Hartz IV ist tatsächlich Armut per Gesetz und es ist bedauerlich, dass erst Verfassungsrichter klar stellen müssen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie haben andere, eigene Bedürfnisse, und Kinderregelsätze müssen sich daran orientieren. Kinder wachsen, brauchen in kurzen Abständen neue Kleidung, bedürfen einer regelmäßigen, kindgerechten gesunden Ernährung und für ihre Entwicklung vor allem interessante, anregungsreiche Bildungsangebote. Das muss bei der Regelsatzberechnung berücksichtigt werden.

Eine konkrete Summe wird sich erst ergeben, sobald –  wie vom Bundesverfassungsgericht festgelegt – eine Ermittlung der tatsächlichen Bedarfe von Kindern unterschiedlichster Altersstufen vorliegt. Es ist klar, dass diese Beträge deutlich über den bisherigen Kinderregelsätzen liegen müssen. Von verschiedenen Sozialverbänden wird in diesem Zusammenhang eine für mich realistische Größenordnung um 500 Euro angegeben.

Ebenso wichtig ist es allerdings, dass Kindern aus Familien, deren Eltern Hartz IV-Leistungen oder Niedriglöhne erhalten, unentgeltlich die Lern- und Lehrmittel, Ganztagsplätze mit Mahlzeiten in den Kitas und Schulen, die Schülerbeförderung, Sportangebote, Museen, Theater und Bibliotheken nutzen können.

Das ist eine Aufgabe, die der Bund gemeinsam mit den Ländern dringend umsetzen muss, um den 2,5 Millionen in Armut lebenden Kinder Deutschlands endlich ihr Recht auf eine chancengleiche Entwicklung einzuräumen.

Frage: Hartz IV war in der bisherigen Form ohnehin eine Fehlkonstruktion, ein bürokratischer Beschäftigungsapparat. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sprach „vom größten Murks seit der deutschen Einheit“. Da wurden arbeitswillige, hoch qualifizierte Menschen mit erheblichen gesundheitsbedingten Handicaps, allein erziehende Mütter, junge wie ältere fleißige Arbeitnehmer, die unverschuldet die Arbeit verloren haben, in einen Topf mit den wenigen wirklich Arbeitsunwilligen geworfen, wobei Letztgenannte medial als typische Hartz IV-Empfänger herhalten. Bleibt es aus Sicht der Linkspartei dabei: „Hartz IV muß weg !“ ?

Dr. Marianne Linke: Ja, Hartz IV muss weg. Seit Einführung dieser Gesetze im Jahr 2005 wurde quasi über Nacht Armut mit Suppenküchen, Tafeln und Kleiderkammern wieder ein alltägliches Phänomen in Deutschland, wie die Älteren unter uns es lediglich aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg kennen.

Hartz IV – das ist die bundesweite Ausweitung von Niedriglöhnen und „Aufstockern“, die für Hungerlöhne hart arbeiten und von der ARGE – also vom Steuerzahler – ergänzende Leistungen erhalten.

Übrigens gibt es zu jeder Zeit, in jeder Generation immer auch Menschen, die keine Lust auf irgendetwas haben. Eine gute Ausbildung, eine Arbeit mit qualifikationsgerechter Bezahlung sind jedoch für die meisten Menschen wichtige Werte im Leben.

Ich werde deshalb nicht die langzeitarbeitslosen Menschen dafür kritisieren, dass sie keine Arbeit finden und Sozialleistungen für ihren Lebensunterhalt bekommen. Es ist außerordentlich menschenverachtend, wenn Herr Westerwelle von „römischer Dekadenz“ und „leistungslosem Wohlstand“ spricht.

Kinder sind keine Nein, ich fordere, dass der Staat seinen Beitrag leistet, gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen. Der mit der Agenda 2010 zum Regierungsprogramm erhobene Sozialabbau muss endlich gestoppt und über eine Steuerpolitik rückgängig gemacht werden, die öffentliche Haushalte wieder füllt und nicht zugunsten militärischer Einsätze oder dubioser Wirtschaftshilfen entleert.

Frage: Ein Manko bei „Hartz IV“ war immer: Das Elend wurde verwaltet, aber nie gelöst. Monatlich werden geschönte Arbeitslosenstatistiken präsentiert, die mit der Realität nichts gemein haben. „Unternehmer“ und „Arbeitnehmer“ sind inzwischen auch solche, die man früher eher dem „Prekariat“ zugeordnet hätte, wenn man deren reale Einkommen zum Maßstab nimmt. Wie beurteilen Sie die Situation auf dem Arbeitsmarkt, gerade auch in Mecklenburg-Vorpommern – vor dem Hintergrund von „Hartz IV“ ?

Dr. Marianne Linke: Mit Ihrer Kritik an den geschönten Statistiken und der aufgeblähten Hartz IV-Bürokratie, die mit ihren Prozeduren und Sanktionen immer wieder viele Menschen entwürdigt und entmutigt, haben Sie vollkommen recht.

Das entscheidende Problem der fehlenden Arbeitsplätze muss allerdings auf andere Weise angegangen werden. Die Produktivitätsentwicklung und der technologische Fortschritt haben dazu geführt, dass für die gesellschaftlich nachgefragten Güter und Leistungen immer weniger Arbeitszeit aufgewandt werden muss, zugleich aber für den einzelnen Arbeitnehmer eine kaum noch zu bewältigende Leistungsverdichtung erfolgte.

Hier könnten mit gesetzlich festgelegten Arbeitszeitverkürzungen, wie zum Beispiel in Frankreich auf 36 Stunden pro Woche und das bei einem gesetzlichen Mindestlohn von über 9 Euro pro Stunde, neue Arbeitsplätze für Millionen Menschen entstehen.

Darüber hinaus sollten mit einem Steuer finanzierten Arbeitsmarkt in den Kommunen wohnortnahe Arbeitsmöglichkeiten in sozialen Bereichen, wie zum Beispiel in der außerschulischen Kinderbetreuung, im Kultur- und Umweltbereich oder bei sozialen Dienstleistungen für hilfebedürftige Bürger geschaffen werden.

Hierfür wären Steuergelder weit besser angelegt als für die jetzigen Milliardenausgaben, die die Verwaltung der Arbeitslosigkeit und Armut kostet. Allein mit dem Verzicht auf teure Rüstungsprojekte, auf Kriegseinsätze oder auf immer neue Überwachungssysteme ließen sich Millionen neuer Arbeitsplätze im sozialen Bereich finanzieren.

Die Fragen stellte: Marko Michels.

Foto 2+3: M.M.

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