Jährlich besuchen 100 Handwerker auf der Walz das Schweriner Stadthaus

Verwegen sehen sie aus, die Handwerker auf der Walz: Schlaghose und Ohrring kombiniert  mit Jacke, Weste, Hut  und Wanderstab – daraus  ergibt sich ein durchaus exotischer Anblick. Der wird regelmäßig im Schweriner Stadthaus gesichtet. Rund 100 Handwerker auf der Walz melden sich jedes Jahr im Büro der Oberbürgermeisterin, um sich das offizielle Siegel der Stadt in ihr Wanderbuch stempeln zu lassen.
Die wandernden Handwerker dürfen – so will es die Jahrhunderte alte Tradition – einen  Bannkreis von meist 50 Kilometern  um ihren Heimatort nicht betreten.  Die mindestens zwei-, meist dreijährige Abwesenheit von Familie und Freunden ist nur einer der Gründe, warum die Wanderschaft nicht nur von romantischen Gefühlen begleitet wird. Die Handwerker dürfen kein eigenes Fahrzeug besitzen, bewegen sich nur zu Fuß oder per Anhalter. Öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, ist zwar nicht verboten, aber verpönt.

„Oft weiß man morgens nicht, wo man abends schläft“, erzählt der Tischler Mario Etzold, der in der vergangenen Woche plötzlich im Büro der Oberbürgermeisterin steht. Der 22-Jährige ist bereits seit anderthalb Jahren auf Wanderschaft. Er stammt aus Oranienburg, kommt gerade aus Prenzlau und will weiter nach Parchim. „In der Handwerkskluft hat man es beim Trampen nicht allzu schwer“, sagt er.

Der Zufall will es, dass Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow  zwischen zwei Terminen Zeit für ein Gespräch mit dem wandernden Gesellen hat – und mit ihm in seinem Wanderbuch blättern kann. Darin sammelt der Tischler-Geselle  – wie es der alte Brauch verlangt – Städtesiegel der von ihm besuchten Ortschaften. Es finden sich aber auch Fotos von der letzten Sommerbaustelle in Lüchow oder Aufzeichnungen von anderen Erlebnissen.

Die Wanderschaft von Zimmerleuten, Tischlern, Dachdeckern oder Maurern, auch Walz genannt, ist eine Institution, deren Wurzeln bis ins Mittelalter reicht. In vorglobalisierten Zeiten war sie eines der wichtigsten Mittel des Wissenstransfers. Nach der Wiedervereinigung nutzten auch viele ostdeutsche Gesellen wieder die Möglichkeit, auf die Walz zu gehen. Die wachsende Arbeitslosigkeit, unter der auch die Baubranche leidet, belebt den neuen Boom zusätzlich. So machen nicht wenige aus der Not eine Tugend und verlassen für mehrere Jahre ihre Heimat. Auch Mario Etzold zieht es in die Ferne: „Mein Traum ist es, nach Kanada zu gehen.“

Da ein hoher Prozentsatz der  Handwerker Zimmerer sind, ist es nur wenig bekannt, dass auch Gesellen und Gesellinnen anderer Handwerksberufe auf der Wanderschaft sind -darunter sogar Bootsbauer, Töpfer, Schmiede, Holzbildhauer, Schneider, Instrumentenbauer und Kirchenmaler. Der Irrglaube, dass nur Zimmerleute auf der Walz wären, wird noch dadurch verstärkt, dass viele Gesellen anderer Gewerke ebenfalls die typische schwarze Zimmererkluft mit der weißen Staude, einem kragenlosen Hemd, tragen. Schätzungen zufolge sind in Deutschland  jährlich 600 bis 800 Wander-Gesellen und Gesellinnen unterwegs. Zehn Prozent sind Frauen.

Selbst manche Person der Zeitgeschichte war in seiner Jugend auf Wanderschaft. Das Online-Lexikon Wikipedia  nennt Namen wie den Mitbegründer der SPD August Bebel (gelernter Drechsler), den Autofabrikanten Adam Opel (gelernter Mechaniker) oder den früheren DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht (gelernter Tischler).

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