Selbsthilfe braucht Lobby

KISS verstärkt Angebote im sozialen Bereich

Schwerin. Was hat eine Frauenlaufgruppe mit Selbsthilfe zu tun? Noch vor zehn Jahren hätte jeder Insider diese Frage mit „Nichts“ beantwortet. Doch im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich das Verständnis von Selbsthilfe grundlegend geändert. Silke Gajek, die am 1. April 2000 den Staffelstab als Geschäftsführerin der Schweriner Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen KISS von der Gründerin Dr. Ursula von Appen übernahm, hat diesen Wandel miterlebt und gefördert.

Dr. Jähme und Silke GejekIn Schwerin sind gegenwärtig 139 Selbsthilfegruppen registriert, ein großer Teil im psychischen und im Suchtbereich. „Vor 20 Jahren gab es 21 Gruppen“, erinnert sich die Geschäftsführerin der Einrichtung am Nordufer des Pfaffenteichs, „die sich größtenteils unter dem Dach der KISS trafen. Es waren vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen, die sich über ihre – nicht immer positiven – Erfahrungen mit den Ärzten austauschten, über Medikamente und Behandlungsmethoden. Damals kamen vor allem ältere Menschen, heute hat sich der Altersdurchschnitt gerade im Suchtbereich stark verjüngt.“

Silke Gajek: „Als wir uns vor sechs Jahren verstärkt mit der Suchtproblematik beschäftigten und das Selbsthilfespektrum unserer Stadt vorstellten, ging es größtenteils um Alkohol und Drogen. Inzwischen haben sich neue Selbsthilfegruppen unter anderem für polytoxe, also mehrere Süchte gegründet. Die Bandbreite reicht von Liebes- bis zur Spielsucht, von Essstörungen bis zur Mediensucht; sie betrifft Männer, Frauen und Jugendliche, junge und alte Menschen gleichermaßen.“

Dr. Wolfgang Jähme, der zur gleichen Zeit den Vorsitz des KISS e. V. übernahm, schätzt die Selbsthilfe als Mediziner und als gesellschaftliche Verpflichtung. Der Psychologe gehört zu den Ärzten in der Landeshauptstadt, der seine Patienten in die Gruppen schickt, der Selbsthilfe als Ergänzung der Therapie sieht. Etwas für sich selbst tun, so Erfolgserlebnisse haben, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, das  sei wichtig.

Silke Gajek und Dr. JähmeGajek unterstreicht, dass die Selbsthilfe Abkehr von einem fremdbestimmten Leben bedeutet. Dabei helfe die KISS. „Wir stellen Räume zur Verfügung, führen die Konten der nicht immer langjährig stabilen Gruppen und nutzen die modernen Medien“, erläutert sie. „So sind unsere Themenchats im Internet gerade für Betroffene im ländlichen Raum wichtig, um Probleme ansprechen  und Beratung erhalten zu können.“ Die Vierteljährlich erscheinende Selbsthilfezeitung klärt tiefgründiger über einzelne aktuelle Themen auf. „Das Interesse ist groß“, freut sich Gajek. „Unser Mobbing-Heft ist schon lange vergriffen.“

Sie sieht die KISS als ein Netzwerk an, als Dienstleister für die Selbsthilfegruppen. Diese Aufgabe ist für die Schwerinerin auch eine politische: „Die freien Selbsthilfegruppen wie Borderline, Essstörungen, Messies oder Mobbing-Opfer, die keinem Verband angehören, haben es schwer. Sie kommen möglicherweise zukünftig schwerer an die Förderung der Krankenkassen; sie finden in der Politik selten Gehör.“ Deshalb möchte Silke Gajek für sie eine Lobby schaffen.

Beim Festumzug zum Stadtjubiläum darf auch die KISS im Vereinsblock nicht fehlen. „Wir werden zeigen, dass Selbsthilfe ein großes Netzwerk darstellt, und dies bildlich“, erläutern Silke Gajek und Dr. Wolfgang Jähme.“ Dazu passt, dass sie künftig die Selbsthilfe im Erwerbslosenbereich stärken wollen. „Soziale Selbsthilfe“, sagt Gajek, „ist das Thema der Zukunft.“

Und dazu passt dann auch die Laufgruppe, die die Frauen zusammen führt, sie stärkt und sie auch für ihren Alltag aktiviert.

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