Zwischen London 1908 und Peking 2008 …
Während über den Sinn oder die Sinnlosigkeit eines Olympia-Boykotts 2008 in Peking angesichts der dortigen massiven Menschenrechtsverletzungen, der mangelnden Presse- bzw. Meinungsfreiheit sowie der Unterdrückung der Tibeter aktuell massiv diskutiert wird (siehe SPIEGEL Nr.15/2008 mit dem Titel „Die Herren der Ringe – Wie Chinas Regime sein Volk unterdrückt und Olympia verrät.“ !), wurden vor 100 Jahren die IV.Olympischen Spiele in der ältesten Demokratie der Welt, im englischen London, gefeiert, dass dann noch einmal (1948) Austragungsort war und 2012 erneut olympischer Gastgeber sein wird.
Eigentlich sollten die Spiele in Rom stattfinden, doch da der Vesuv 1906 ausgebrochen und starke Zerstörungen anrichtete, was die Finanzmöglichkeiten Italiens überstrapazierte, gab Rom die Spiele zurück und London „sprang ein“.
Rund 2000 Sportler und nur „magere“ 36 Sportlerinnen aus 23 Ländern wetteiferten damals in 110 Wettbewerben in 22 Sportarten um Gold, Silber, Bronze und gute Platzierungen.
Schon damals galt, was heute bei Heidi Klum wieder gilt: Nur einer/eine konnte gewinnen.
Und das waren in London 1908 meistens die Gastgeber selbst. Mit 56 x Gold distanzierten sie die zweitplatzierten Amerikaner und den „Rest der Welt“ mehr als deutlich. Zu deutlich, wie nicht nur die enttäuschten Amis empfanden …
IOC-Präsident Pierre de Coubertin hatte die Engländer in ihrem „Unterfangen“ unterstützt, dass diese alle Kampfrichter selbst stellen wollten. In der Annahme, dass diese bestens qualifiziert, objektiv und „überparteilich“ gemäß dem englischen „Fairplay“ seien, wurden dann ausschließlich englischen Kampfrichter aktiv. Ein Fehler, wie sich bald erwies …
Extremes Beispiel dafür war die Entscheidung im 400 Meter Lauf.
Das Finale dort avancierte zu einer einmaligen sportlichen Scharade, da der Sieger, der Brite WYndham Halswelle, sein Gold „im Alleingang“ gewann.
36 Läufer hatten für die 400 Meter gemeldet. Halswelle hatte gerade im Zwischenlauf in 48,4 Sekunden seine Klasse bewiesen, so dass ganz England auf Gold in dieser Disziplin hoffte. Doch „Pustekuchen“ ! Im Finale, das man mit vier Teilnehmern, u.a. Wyndham Halswelle sowie drei US-Boys, ohne Bahneinteilung, durchführte, wurde Halswelle von den drei Amis angeblich absichtlich behindert und fast von der Bahn gedrängt. John Carpenter aus den USA gewann, wurde aber vom englischen Wettkampfgericht wegen Behinderung eines Konkurrenten disqualifiziert.
Das Rennen sollte wiederholt werden, aber die Amerikaner weigerten sich, an einem nochmaligen Lauf teilzunehmen. Wyndham Halswelle trat also zur „Wiederholung“ allein an und wurde – „welch Überraschung“ – Olympiasieger über 400 Meter 1908.
Da es auch in anderen olympischen Wettkämpfen fragwürdige Entscheidungen zugunsten der Briten gefällt wurden – so im Tauziehen als die Briten mit Nägel „untersetzte“ Schuhe benutzten, um so einen besseren Halt zu erreichen (!), oder im Tennis, als das jeweilige Kampfgericht die eine oder andere knappe Entscheidung stetig zum Vorteil der englischen Starter traf – gab es diplomatische „Verwicklungen“ zwischen den Briten und Amerikanern, aus „harmlosen Anlass“ allerdings, denkt man an die heutigen Vorgänge in Tibet.
Dennoch waren die Spiele 1908 bestens vorbereitet worden und die Organisation überzeugte.
Nur der Austragungszeitraum war so irrsinnig lang: Über mehr als fünf Monate erstrecten sich die Wettkämpfe: Selbst der größte Sportfan mußte angesichts dieser „Überlänge“ interessenmäßig „kapitulieren“ …
Zwar fand das „Kernprogramm“ mit der Leichtathletik zwischen dem 13. bis 25.Juli
Viel Neues, „Jahreszeitliches“ und sogar „Wintersportliches“ gab es in London … Motorbootrennen wurden erstmalig und einmalig bei Olympia ausgetragen, und Feld-Hockey feierte seine olympische Premiere. Dort gewann England vor Irland, Schottland bzw. Wales (Alle Teams starteten unter dem „Union Jack“ !).
Wieder aufgenommen ins olympische Programm wurde Boxen, aus dem Programm gestrichen hingegen wurden Reiten und Golf.
Die sommerlichen Sportarten, speziell die Leichtathletik, fanden – wie schon erwähnt – im Juli statt, Fußball und Boxen zum Beispiel im Herbst. Im Fußball siegte „natürlich“ das Mutterland des modernen Fußballsportes vor Dänemark und beim Boxen waren die Faustkämpfer von der Insel fast unter sich.
Die älteste Olympiasiegerin „aller Zeiten“ in der Neuzeit wurde im Bogenschießen gekürt. Bei diesem Wettbewerb gewann die 53jährige (!) Q.F.Nevall.
Auch der Wintersport kam in London zum Zuge: Auf dem Programm standen vier Konkurrenzen im Eiskunstlauf.
Viel Groteskes spielte sich am Rande ab:
Amerikanische und schwedische Flaggen wurden nicht aufgezogen, weil sie die Veranstalter angeblich nicht finden konnten oder wollten.
Viele irisch-stämmige Amerikaner nutzten Olympia 1908 zu politischen Zwecken und warfen der englischen Regierung die Diskriminierung und Unterdrückung ihres früheren „Heimat“landes Irland vor … (Anm.: Erst Ende Dezember 1937 wurde Irland ein souveräner Staat !)
US-Fahnenträger Ralph Rose, der viele irische Freunde hatte, weigerte sich, bei der Eröffnung die Flagge vor dem englischen König Edward VII. zu senken, was erhebliche Diskussionen zwischen amerikanischen und englischen Politikern mit sich brachte und später zum zeitweiligen Abbruch der sportlichen Beziehungen zwischen Amerika und England führte.
Ein olympischer „Gold-Hamster“ aus Amerika setzte seine Gold-Serie auch in London 1908 fort: Ray Ewry (USA) holte sich seinen neunten und zehnten Erfolg (einschl. der Siege bei den Zwischenspielen 1906 in Athen) in der Leichtathletik. Das dritte Gold hintereinander holten sich in London auch die Amis John Flanagan (Hammerwerfen) und Martin Sheridan (Diskuswerfen).
Der „Deutsche Reichsausschuss“ schickte 82 Männer und – zum ersten Mal in der olympischen Geschichte – auch zwei Frauen nach London. Erfolgreich waren die Wintersportler Anna Hübler Horn und Heinrich Burger, die Gold im Paarlauf gewannen (Kürzlich „traten“ der gebürtige Greifswalder Robin Szolkowy und dessen Partnerin Aljona Sawtschenko in deren „Kufen“ und wurden Paarlauf-Weltmeister 2008 ! – Anm.d.R.), sowie Elsa Rendschmidt mit Silber im Einzel. Insgesamt war die Medaillenbilanz jedoch sehr dürftig: 3 x Gold und 5 x Silber sowie 6 x Bronze. (Hoffentlich läuft es in Peking 1908 für die deutschen Farben „etwas“ besser …)
Ein olympisches Drama spielte sich im Marathonlauf 1908 ab:
Der italienische Läufer Dorando Pietri , der auf der letzten Stadionrunde mehrfach zusammenbrach, erreichte nur mit „(Unter-)Stützung“ der Funktionäre die Ziellinie und wurde deshalb disqualifiziert. Später stellte sich heraus, dass er mit Strychnin gedopt war …
Mecklenburg(-Vorpommern) musste noch 20 weitere Jahre auf den ersten Olympiasieg warten. Mit Carl-Friedrich von Langen (aus Parow bei Stralsund) holte ein Reitsportler mit zweimal Gold in der Dressur 1928 die ersten olympischen „Lorbeeren“.
Schwerin musste noch bis 1976 auf das erste olympische Gold warten: Bei Olympia in Montreal erkämpften der Boxsportler Jochen Bachfeld, der Ruderer Michael Wolfgramm und die Schwimmerin Andrea Pollack die ersten olympischen Siege für die Landeshauptstadt M-V.
Medaillenspiegel 1908 in London (Land-Gold-Silber-Bronze)
1.Großbritannienien: 56-51-38 / 2.USA: 23-12-12 / 3.Schweden: 8-6-11 / 4.Frankreich: 5-5-9 / 5.Deutschland: 3-5-6 / 6.Ungarn: 3-4-2 / 7.Kanada: 3-3-10 / 8.Norwegen: 2-3-3 / 9.Italien: 2-2-0 / 10.Belgien: 1-5-2
Marko Michels
> Sinnlosigkeit eines Boykottes 2008 – eine Anmerkung
Olympia für politische Zwecke zu missbrauchen, ist alt und war immer zum Scheitern verurteilt. Wie ein Blick in die olympischen Annalen (auch mit Hinblick auf 1908 !) verrät.
Der olympischen Boykott von 1976 in Montreal war schon ein einziger „Irrsinn“ als die afrikanischen Staaten an den Spielen nicht teilnahmen, weil deren Sportpolitiker einen vergeblichen Ausschluß Neuseelands forderten. – Grund: Ein neuseeländisches Rugby-Team (Rugby war nicht einmal olympisch und dem neuseeländischen NOK unterstellt !) spielte im damaligen Apartheid-Staat Südafrika.
Das IOC ließ Neuseelands Mannschaft für Montreal dennoch zu, und Afrika sagte die Olympia-Teilnahme fast geschlossen ab. 1980, nach dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan, nahmen zahlreiche westliche Staaten in Moskau nicht teil. Die Rote Armee blieb dennoch in Afghanistan und die Leidtragenden waren die Sportler.
Ähnliches dann 1984 in Los Angeles als viele Ostblock-Staaten wegen angeblicher „antikommunistischer Aktivitäten“ in der amerikanischen Olympiastadt ihren Start absagten – auch hier waren, wie schon 1976, 1980 und 1984, die Leidtragenden die Sportler – ohne, dass damit die Politik des jeweiligen Staates geändert wurde.
Jetzt Peking zu boykottieren, wäre daher kontraproduktiv. Hatte der Sport doch Anfang der 1970er Jahre erst zur Öffnung Chinas gen Westen beigetragen. Die politische Annäherung Chinas und der USA ab 1971 erfolgte beispielsweise durch den Tischtennissport, heute unter dem Begriff „Ping-Pong-Diplomatie“ bekannt.
Die Freundschaft des amerikanischen Tischtennisspielers Glenn Cowan zu seinem Konkurrenten Zhuang Zedong führte zu einer Einladung Pekings an die Amerikaner.
Davon inspiriert begannen politische Gespräche zwischen US-Außenminister Kissinger und US-Präsident Nixon mit Chinas Nr.1 Mao. China begann von da an, sich politisch, wirtschaftlich und kulturell zu öffnen und zu verändern. Neue Impulse, in Hinsicht Verbesserung der Menschenrechte, der Presse- und Meinungsfreiheit in China und der Lage in Tibet, könnte Olympia 2008 geben.
Diese Chance sollte nicht leichtfertig vertan werden. Zwar war Olympia „nie eine mächtige Stütze des Friedens“, wie von Coubertin, dem Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, erhofft, aber noch immer sind die Spiele das einzige Fest, zu dem die ganze Welt geladen ist. Das sollte man nicht mutwillig zerstören.
Allerdings sollten „intelligente Proteste“ durch Sportler auch während der Spiele möglich sein, um den chinesischen Machthabern zu zeigen, was die freie Welt von deren menschenverachtender Politik hält. Die Mehrheit des chinesischen Volkes, bestimmt herzliche Gastgeber, werden diese Proteste sicherlich verstehen – aller Pekinger Propaganda zum Trotz !
Das IOC wollte Peking als Austragungsort, obwohl die dortigen politischen und gesellschaftlichen Defizite bekannt waren. Jetzt die Sportler als „Boykott-Keule“ zu instrumentalisieren, wäre gleichermaßen dumm wie defensiv.
Nur politischer und wirtschaftlicher Druck kann mittelbar helfen, die Lage der Tibeter zu verbessern.
Marko Michels
F.: DOG (4), M.M. (1)